Ein Interview mit Holger vom Projekt 100% MENSCH - Teil 2

Ein Interview mit Holger vom Projekt 100% MENSCH - Teil 2

"Es gibt noch so wahnsinnig viel zu tun!"

Wie du weißt, spenden wir von jeder Bestellung 1€ an das gemeinnützige Projekt 100% MENSCH. Wir haben Holger, den Geschäftsführer und Gründer des Projekts, auf virtuellem Wege kennengelernt und ein super spannendes Gespräch geführt. Im ersten Teil hat Holger über die Ziele vom Projekt 100% MENSCH gesprochen, wie ein typischer Tag bei ihm ausschaut und was seine Arbeit so wertvoll macht (noch nicht gelesen? Hier geht's zum Beitrag).

Im zweiten Teil unseres Interviews erklärt Holger, warum die verschiedenen Begriffe rund um die LGBTQ+ Community so wichtig sind, wie sie mit Gegenmeinungen umgehen und warum sich die heutige Generation mit anderen queeren Themen auseinandersetzt als die früheren Generationen.

Ihr leistet viel Aufklärungsarbeit und erstellt tolles Infomaterial. Warum sind so viele Begrifflichkeiten deiner Meinung nach wichtig?

Holger: Ich verstehe schon, dass Einigen die vielen unterschiedlichen Wörter echt auf den Nerv gehen. Dabei muss man die ja aber auch gar nicht alle wissen, sondern einfach nur akzeptieren, dass sie existieren. Jede Selbstbezeichnung ist erstmal zu akzeptieren.

Wir selber haben heftigen Gegenwind dafür bekommen, dass wir die ganzen unterschiedlichen Begriffe rund um die queere Community erklären. Aber diese Wörter und Beschreibungen sind wichtig, weil Menschen dann Begriffe und Beschreibungen für sich selber finden. Für ihr Selbsterleben. Sei es auf geschlechtlicher Ebene, sei es auf sexueller Ebene oder auf Beziehungsebene. Menschen können sich mit diesen Begriffen selbst beschreiben, was sehr wichtig für die eigene Identität ist.

Es ist aber auch wichtig, Menschen zu finden, denen es genauso geht. Denn bei den meisten Menschen geht es einfach um Gruppenzugehörigkeit, um sich in Gruppen austauschen und kommunizieren zu können. Dadurch kann man auch wiederum in die Sichtbarkeit gehen und seine Bedürfnisse verbalisieren. Denn diese sind einfach ganz unterschiedlich.



Problematisch wird es nur bei den ganz exakten Definitionen. Eine bis ins kleinste Detail ausformulierte Beschreibung und Abgrenzung ist sehr schwierig, weil alles ein Spektrum ist. Selbst bei männlich und weiblich gibt es das, dazwischen liegt nicht-binär und intergeschlechtlich. Ganz abgesehen davon, dass es noch unterschiedliche Ebenen gibt, nämlich die körperliche Ebene, die Identitätsebene und Ausdrucksebene.

- „Es ist ein Regenbogen! Geschlecht ist ein Spektrum. Jeder Mensch hat alle Gefühle und Emotionen. Jeder Mensch hat alle Verhaltensweisen. Und die sind uns über die Geschlechterrollen an- oder abtrainiert worden. Sie werden sanktioniert oder belohnt. Und das ist ein großes Problem.“ -

Du hattest gerade Gegenmeinungen erwähnt. Bekommt ihr denn auch Gegenmeinungen bezüglich eurer Arbeit?

Holger: Auf jeden Fall. Wir bekommen Hasstiraden im Netz, wir bekommen Briefe, wir bekommen manchmal alles Mögliche um die Ohren gehauen. Und solange das der Fall ist, weiß man einfach: Ok, es MUSS noch was getan werden. Wir sind eine von ganz vielen Organisationen, die sich dafür einsetzen, dass sich die Situation hier in Deutschland, in Europa und weltweit für queere Menschen verbessert. Es gibt noch sehr viele Baustellen. Mal abgesehen von der gesetzlichen Ebene – selbst, wenn sich da sehr viel ändert, heißt es nicht, dass die Gesellschaft mitzieht. Da wird eine ganze Generation damit beschäftigt sein, bis die Gesellschaft so weit ist, dass sie die nächsten große Schritte macht.

- „Auf gesellschaftlicher Ebene auf der Aufklärungs- und Bildungsebene gibt es noch so wahnsinnig viel zu tun – das ist eine Generationsaufgabe!“ -

Hast du denn das Gefühl, dass die jüngeren Generationen schon queeroffener sind?

Holger: Eins ist definitiv klar: Die Arbeit, die in den letzten Jahrzehnten gemacht worden ist, hat dazu geführt, dass sich die Gesellschaft in Deutschland schon geändert hat, was das Verständnis für LGBTQ+ angeht. Sei es einfach die verstärkte Repräsentanz in den Medien, die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare oder auch die stärkere Sichtbarkeit durch viel mehr öffentliche Persönlichkeiten, die sich geoutet haben. Außerdem können sich heute Menschen natürlich viel früher über das Internet informieren.

Was ich persönlich immer wieder feststelle: Die jüngere Generation ist unglaublich umfassend informiert und gebildet, was den queeren Bereich angeht. Das finde ich wirklich grandios! Die haben so viel Hintergrundwissen, das ist wirklich der Wahnsinn.

Die jüngere Generation setzt sich mittlerweile natürlich auch mit ganz anderen queeren Themen auseinander, weil sich die Zeiten einfach geändert haben. Noch vor 30 oder 40 Jahren ging es erst einmal darum, eine grundsätzliche Akzeptanz in der Gesellschaft zu erreichen. Es wurden Meilensteine gelegt, die unfassbar wichtig waren: Die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, die Aufhebung des §175, das Überstehen AIDS-Krise - das waren alle unglaublich wichtige Grundsteine, mit denen sich die heutige Generation ja zum Glück nicht mehr auseinandersetzen muss.

Durch diese geleistete Vorarbeit der vorangegangenen Generationen und die heutige Internetaffinität stehen die jungen Menschen an einem ganz anderen Punkt. Dafür braucht es Kommunikation. Auch das ist ein bisschen die Aufgabe vom Projekt 100% MENSCH – die verschiedenen Blickwinkel aufzunehmen. Wir wollen auch den intergenerationalen Austausch herstellen und verstärken.

Apropos jüngere Generationen. Eure Kunstausstellung WAPOC gibt es auch für Schulen. Wie sind denn da so die Resonanzen?

Holger: Von den Schulen bekommen wir die Rückmeldung, dass sich die Ausstellung sehr gut verwenden lässt. Und auch, dass das Thema an sich von den Schüler*innen stark eingefordert wird.

Ich persönlich sehe einerseits eine sehr positive Entwicklung in Bezug auf queere Themen in den Schulen. Zum Einen findet gerade ein Generationswechsel bei den Lehrkräften statt. Neue, jüngere Lehrkräfte bringen natürlich schon ein anderes Verständnis für dieses Thema mit in die Schulen hinein. Das ist eine echt tolle Entwicklung.

Demgegenüber steht aber auch der Schulbuchmarkt. Wie siehts denn mit Unterrichtsmaterialien aus? Da ist wirklich noch eine Menge Luft nach oben! Wenn man in die Bücher und Materialien hineinschaut, entdeckt man eine sehr einseitige Darstellung. Da gibt es sehr wenig Diversität generell. Und da spreche ich nicht nur von sexueller Orientierung, sondern auch von Herkünften, Hautfarben, unterschiedlichen Körpern, unterschiedlichen Beziehungs- und Familienkonzepten. Wir brauchen deutlich mehr Vielfalt in den Büchern, denn die Realität muss abgebildet werden.

- „Wenn Sachen nicht sichtbar sind, dann werden diese Sachen als nicht normal abgespeichert und negativ konnotiert. Sie werden in der Wahrnehmung entwertet.“ -

Genau dort beginnt dann das Vorurteil: Du bist anders. Du gehörst hier nicht hin. Eine Aufgabe der Schulliteratur sollte es sein, Lebensrealitäten abzubilden. Mittlerweile gibt es ja schon richtig tolle Bücher, aber es sind immer noch zu wenige. Gerade in Schulmaterialien. Oder Themen werden ausgeschlossen. Wenn überhaupt über queere Themen gesprochen wird, geht es z.B. oft erst einmal um schwules Leben.

Hui, wir sind schon fast am Ende unseres Gesprächs. Was steht bei euch so für das Jahr 2022 an? Magst du uns dazu noch kurz etwas erzählen?

Holger: Es wird wieder einen Trans* Pride Day Stuttgart geben, auch ein zweites Kinderbuch ist in Planung. Generell wollen wir verstärkt Bildungsmaterial produzieren, vor allem für Kindergärten. Außerdem wollen wir ausgefallene Ausstellungen nachholen. Dann stehen auch Neuerungen bezüglich unserer Webseite an. Und und und ... Ihr wisst: Es gibt einfach viel zu tun. Aber ich freue mich sehr darauf!

Danke Holger für das tolle Gespräch, deine Zeit und den Blick in die Arbeit des Projekts 100% MENSCH! Du hast uns mit deinen Worten inspiriert und uns bestärkt, dass wir gemeinsam für die richtige Richtung kämpfen. Wir freuen uns, dass wir so ein großartiges Projekt unterstützen! 

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